Brief an meinen verstorbenen Bruder

Sonnenuntergang über dem Saarland
Hallo Torsten mein Schatz.

Ich weiß irgendwie gar nicht, wie ich anfangen soll, denn es fühlt sich so irreal an. Ich glaube ja nicht an das Übersinnliche und daran, dass du jemals diese Zeilen mitbekommst. Aber ich hätte dir noch so viel zu sagen und frage mich jeden Tag, warum du  für immer gegangen bist. Du bist am 1. Juli dieses Jahr schon 29 Jahre tot. Und trotzdem kommt es mir so vor, als wäre der 1. Juli 1996 erst gestern gewesen. Du fehlst mir so sehr. An dem Tag, an dem du für immer deine Augen geschlossen hast, war der Tag, an dem für mich die ganze Welt zusammengebrochen ist. Und ich kann es noch heute nicht glauben. Ich frage mich so oft, warum? Warum du? Aber ich kann es verstehen. Irgendwann will man diese ganze Scheiße einfach nicht mehr ertragen.

Ich frage  mich so oft, ob du mich als Bruder geliebt hast, da du ja sehr unter mir leiden musstest, weil Rainer mich dazu missbraucht hat. Und dann denke ich an all die schönen Zeiten, die ich mit dir verbringen durfte, an all die Situationen, in denen du mich beschützt hast und dann fällt mir auf, wie sehr auch du mich anscheinend geliebt hast. Vielleicht ist es aber auch nur ein Wunschdenken von mir. Ich muss sooft daran denken, wie wir beide in deiner Wohnung am Fenster lagen und uns gemeinsam die Sterne am Himmel betrachteten. Wie du mir dann von den Weiten des Universums erzählt hast und dass wohl einige Sterne, die wir sehen, schon lange erloschen sind. Ich denke an die vielen schönen Abende, an denen wir gemeinsam bei dir Fernsehen geguckt haben. An den Abend, an dem ich das erste Mal weggehen durfte und so stolz war, dich als meinen Beschützer dabei zu haben. Es war ein so schöner Abend mit dir; 2 Monate bevor du für immer eingeschlafen bist. Ich denke so oft an den Tag, an dem wir uns das letzte Mal lebend gesehen haben, das war 3 Tage vor deinem Suizid. Und den Morgen, als ich erfahren habe, dass du tot bist, erlebe ich so oft wieder, als wäre es gerade erst passiert. Ich höre dann Mama schreien, erlebe alles wie in einem Film. Jede einzelne Sequenz nochmal und nochmal und nochmal. Wie mein Herz rast. Wie mein Herz in tausend kleine Stücke zerspringt. Ein Gefühl, nicht auszuhalten. 

Jeder einzelne Tag ohne dich lässt mich ein Stück mehr innerlich sterben. Ich sehe die Bilder vor meinem geistigen Auge, wie du so freidlich im Sarg lagst. Ich sehe noch jetzt dich ganz deutlich dort liegen und wie ich an deinem Sarg stand und dachte zu glauben, dass deine Brust sich bewegt. Und die Nähte von der Obduktion. Torsten, es tut einfach so weh ohne dich, so verdammt weh. So sehr weh, dass ich das Gefühl habe, es nicht mehr aushalten zu können. All die Bilder erlebe ich so oft und so real, selbst den Geruch in der Leichenhalle rieche ich dann wieder. Und der Moment, als man deinen Sarg runterließ, der Moment, als man ihn in dieses verdammte Loch runterließ, lässt noch heute mein Innerstes zerreißen. Ich war jeden Tag, an dem du in der Leichenhalle lagst, bei dir. Und jedes Mal wäre ich am liebsten nie von deiner Seite gewichen. Jedes Mal habe ich gehofft, es wäre nur ein ganz schrecklicher Albtraum, aus dem ich jeden Moment wieder erwache. Ja, es war und ist immer noch ein Albtraum, aber ein Albtraum, aus dem ich nicht mehr erwachen werde, denn dieser Albtraum findet ganz real statt. 

Torsten, ich möchte dich wissen lassen, dass ich dich über alles liebe und so sehr vermisse. Und auch wenn ich nicht an das Übersinnliche glaube, so hoffe ich, dass wir uns irgendwann, wenn auch ich endlich für immer die Augen schließen darf, wiedersehen werden und wir endlich wieder vereint sein können.

Dein, dich liebender Bruder

Patrick 

Kommentare

Kommentar veröffentlichen

Ich beantworte dein Anliegen, so schnell wie es mir möglich ist

Beliebte Posts aus diesem Blog

Mein Bruder Torsten: Suizid mit Zyankali

Wutbrief an meinen Erzeuger

Ein Leben in Selbsthass und Selbstzerstörung