Mein Bruder Torsten: Suizid mit Zyankali
Mein Bruder hatte es nicht leicht, sich gegenüber unserem Erzeuger zu behaupten. Er musste viel Leid ertragen; Schläge, Beleidigungen, ja auch sehr herablassende Bemerkungen, die sich tief in die Psyche meines Bruders manifestierten. Keine noch so kleinste Gelegenheit ließ unser Erzeuger aus, um meinen Bruder zu bestrafen oder zu schlagen.
Mein Bruder war beruflich von unserem Erzeuger abhängig, da mein Bruder im elterlichen Betrieb arbeitete. Auch wenn mein Bruder oft keinen Lohn von ihm ausbezahlt bekam, blieb mein Bruder treu in der Firma und leistete seine tägliche Arbeit mit viel Fleiß und Herzblut, denn er liebte seinen Beruf als Werkzeugmacher. Nie hätte er sich darüber beschwert, dass öfter seine Lohnzahlung ausblieb, ganz im Gegenteil, er schluckte alles herunter und schwieg. Lieber hätte er sich seine Zunge abgebissen, als dass er ein Wort darüber verloren hätte. Sein Geld für seinen Lebensunterhalt und Zahlungsverpflichtungen verdiente er in einem Nebenjob, der ihm zum Verhängnis wurde.
Es war ein Schneeballsystem in das er da geraten war und bekam, nachdem er diese dubiose Firma verlassen wollte, Drohungen gegen Leib und Leben, welche hauptsächlich gegen die Familie gingen, was wir aber erst viel später erfuhren. Welche Angst mein Bruder um uns und vor allem auch um mich hatte, zeigte sich auf einem Frühlingsfest vom örtlichen Jugendclub. Ein gemeinsamer Bekannter von meinem Bruder und mir, welcher selbst in dieses Schneeballsystem involviert war, redete an diesem Tag mit mir und umarmte mich freundschaftlich. Ich war zu diesem Zeitpunkt 15 und durfte das erste Mal unter Aufsicht meines Bruders auf ein solches Fest, um mitzufeiern. Als mein Bruder dies sah - und ich kannte meinen Bruder nur als äußerst friedfertigen, ruhigen und gelassenen Menschen -, stürmte Torsten auf uns zu, nahm unseren gemeinsamen Bekannten am Kragen und drohte ihm nur mit den Worten: „Du weißt, dass ich alles tun würde, um meinen Bruder zu beschützen und ich gebe dir den guten Rat, lass die Finger von Patrick, wenn du nur den kleinsten Gedanken daran verschwendest, ihm weh zu tun. Du weißt ganz genau was ich meine und ich habe dich im Auge. Verschwende noch nicht einmal einen Gedanken daran, dass könnte dir böse aufstoßen“. Ich verstand die Welt nicht mehr und stellte meinen Bruder zur Rede, der mir nur entgegnete: „Patrick du bist dafür noch zu jung, du verstehst das noch nicht“. Damals war mir sein Verhalten äußerst schleierhaft, doch schon kurz darauf, ein halbes Jahr später, verstand ich, was er damit meinte.
Einen Monat später beendete ich erfolgreich die Hauptschule. Es war Ende Juni 1996, ich feierte mit meinen Schulkollegen den Abschluss auf unserem alljährlichen Volksfest „Spießbratenfest“ in Idar-Oberstein. Auch mein Bruder war dort mit seinen Freunden und ich ahnte nicht, dass dies der Tag sein würde, an dem ich meinen über alles geliebten Bruder das letzte Mal lebend sehen würde. Dies war an einem Freitag. Den Sonntag verbrachte ich dann zu Hause. Ich weiß noch, dass sonntags unsere Mutter lange mit meinem Bruder telefonierte. Sie redeten über mehrere Stunden, er klang befreit und zufrieden. Doch niemand konnte ahnen, was der nächste Tag für ein Schicksal für uns bereithalten würde. An diesem Sonntag, an dem unsere Mutter das letzte Mal seine Stimme hören sollte, war der Tag, an dem unsere deutsche Nationalmannschaft die Europameisterschaft gewann. Mein Bruder verabredete sich zu diesem freudigen Ereignis mit seinen Freunden, um den Sieg der deutschen Fußballmannschaft zu feiern. Spät in der Nacht fuhr mein Bruder mit einem Taxi noch nach Hause, er wohnte im oberen Stock des Hauses unserer Großmutter. Meine Oma konnte sich noch daran erinnern, dass Sie zu diesem Zeitpunkt meinen Bruder die Treppen hoch gehen hörte. Kurze Zeit darauf hielt ein Auto vor dem Haus und meine Oma erkannte ein Taxi. Kurz bevor mein Bruder einsteigen wollte, rief meine Oma ihm noch nach, er solle doch nun zu Hause bleiben, es wäre doch schon so spät, wo er noch hinwolle. Darauf antwortete Torsten mit kurzen Worten, dass er noch kurz weg müsse, es wäre doch alles in Ordnung, sie solle sich beruhigt ins Bett legen und sie müsse sich keine Sorgen „mehr“ machen.
Der Taxifahrer konnte uns Tage später sagen, dass er in dieser Nacht einen sehr ruhigen, freundlichen, fröhlichen und nüchternen Menschen an eine Tankstelle fuhr und danach in die Firma unseres Erzeugers. Dort angekommen rief mein Bruder seinen damaligen besten Freund an und schüttete ihm sein Herz aus, welche Angst er um uns hätte und die Probleme mit unserem Erzeuger. Das war ein Zeitpunkt, an dem mein Bruder das erste Mal mit jemandem über seine Probleme sprach. Im weiteren Verlauf muss mein Bruder mehrmals mitgeteilt haben, dass er seinem Leben ein Ende bereiten würde und er auch schon Verdünnungsmittel und andere gesundheitsschädliche Mittel geschluckt hätte. Diese muss er jedoch während dem Telefongespräch mehrmals erbrochen haben. Da sein damaliger bester Freund jedoch angeblich nicht wusste wo sich die Firma befindet, in der mein Bruder sich befand und die Tatsache, dass er in dieser Situation nicht auflegen wollte um die Polizei zu verständigen, nahm diese Nacht ihren tragischen Verlauf. Das Telefongespräch, welches vom Handy meines Bruders geführt wurde, unterbrach er für kurze Zeit, um vom Festnetzanschluss der Firma nochmals anzurufen. Dies tat er dann auch und gab in diesem weiteren Verlauf zu verstehen, dass er nun das Zyankali aus dem Schrank genommen hätte und er dieses auch einnehmen würde. Minuten vergingen, sein Freund wollte ihn noch davon abbringen, doch dann sagte mein Bruder nur: „So jetzt ist der Zeitpunkt an dem ich nicht mehr will, ich werde es jetzt tun“.
Sein Freund sagte uns, dass er ein schlucken hörte, dann ein lautes Schreien und dass er noch eine Holztreppe hinunter gerannt sein musste. Dann war es still. Lange noch wäre er am Telefon geblieben, doch Torsten kam nie wieder zurück an den Hörer. Er konnte auch nicht mehr, er war tot. Mit nur 22 Jahren hat sich mein Bruder selbst das Leben genommen. Er war müde vom Leben, er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr. Das Telefonat mit seinem Freund war sein Abschiedsbrief. Das Telefonat mit unserer Mutter sein ganz persönlicher Abschied von ihr. In dieser Nacht lagen wir alle im Bett und schliefen, ahnten nicht, welch tragische Ereignisse sich nur einen Kilometer von uns entfernt abspielten. Niemand war bei ihm, als er starb, außer sein bester Freund am Telefon, der seine letzten Atemzüge mitbekam. Morgens gegen 8 Uhr in der Früh wachte ich durch ein lautes Aufschreien unserer Mutter auf, ich hörte sie weinen und schreien: „Nein das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein. Sag, dass das nicht stimmt.“ Ich rannte aus meinem Zimmer und sah meine Mutter in einer verzweifelten Situation, schreien und gleichzeitig bitterlich weinen. Ich fragte was mit Oma oder Rainer - unser Erzeuger - passiert sei, doch sie antwortete mir mit versteinerter Miene, dass Rainer meinen Bruder gerade eben leblos im Waschraum unserer Firma gefunden hätte. Mir blieb der Atem stehen, mein Herz schlug mir bis zum Hals, meine Beine fingen an zu zittern und meine Stimme versagte. Ich konnte das nicht glauben. Mama versuchte die Fassung zu halten und versuchte mich damit zu beruhigen, dass Rainer den Notarzt gerufen hätte und bestimmt alles wieder in Ordnung kommen würde. Minuten der quälenden Angst und vergeblicher Hoffnung vergingen wie Stunden.
Das Telefon klingelte wieder. Mama ging ran und ich erkannte sofort in Ihrem Gesicht: Torsten lebt nicht mehr, er ist tot! Ich fing an zu schreien, schlug meinen Kopf gegen die Wand und konnte diesen Schmerz nicht mehr aushalten. Wenn ich diese Zeilen schreibe, so kommt es mir nach 29 Jahren immer noch so vor, als wäre es erst gestern geschehen. Es fühlt sich dann wieder so an, als wäre ich in meinem Kinderzimmer, höre Mama schreien, rieche und fühle wieder das Gleiche. Diesen 1. Juli, drei Wochen vor meinem 16. Geburtstag, werde ich nie vergessen.
Ab diesem Tag, an dem mein Bruder für immer von uns gegangen ist, ist auch ein Teil von mir gestorben und ich kann den Schmerz über den Verlust meines Bruders auch nach 29 Jahren immer noch nicht in Worte fassen.
Tagelang befand ich mich in Weinkrämpfen, mein Leben schien ab diesem Zeitpunkt für mich komplett zusammenzubrechen. An dem Tag, an dem mein Bruder verstarb, verbrachte ich den Abend bei unserer Großmutter. Ich lag in der Badewanne, als es an der Haustüre klingelte. Oma saß gerade vor dem Fernseher und stand auf, um am Fenster nachzusehen, wer an der Türe geklingelt hatte. Als sie jedoch das Fenster öffnete, stiegen 2 große Männer in einen Kombi ein und verschwanden für immer. Niemand weiß, wer diese Männer waren und was sie wollten. Der Nachbar meiner Großmutter sagte der Polizei, dass er an diesem 1. Juli 1996 vormittags einen solchen Wagen schon einmal über längere Zeit vor dem Haus stehen sah, 2 große Männer, die schon bedrohlich ausgesehen hätten und immer wieder klingelten. Doch es machte keiner auf, es war ja auch niemand zu Hause - Torsten war tot und Oma bei uns zu Hause.
Der Nachbar fragte die Männer, ob er ihnen behilflich sein könnte und wenn niemand aufmachen würde, wäre auch niemand zu Hause. Einer der Männer erwiderte, es wäre weiter nicht wichtig, sie würden dann nun fahren. Waren dies auch die Männer, die am Abend klingelten? Warum verschwanden sie so schnell und plötzlich? Waren dies vielleicht auch die Männer, die gegenüber meinem Bruder die Drohungen an unsere Familie richteten? Diese Fragen werde ich wohl nie beantwortet bekommen. Auch wenn ich mir sie immer und immer wieder stelle. Warum nur mein Bruder? Warum wollte er freiwillig aus dem Leben gehen? Waren es die Drohungen dieser unbekannten Männer oder die schlimme Kindheit, die mein Bruder durch unseren Erzeuger erfahren musste, oder war es ein Mix aus beidem?
Dass mein Bruder diesen Schritt im elterlichen Betrieb machte, sollte wohl ein klares Zeichen an unseren Erzeuger sein. Denn nur er konnte meinen Bruder so auffinden, denn mein Bruder und Rainer arbeiteten alleine in der Firma. Wollte er damit Rainer zeigen, was er in all den Jahren der Tyrannei angerichtet hatte? Ich sage JA. Doch warum verließ er meine Mutter und mich für immer? Lange Zeit gab es bei mir ein Wechselbad der Gefühle aus Wut und Trauer. Doch ich weiß, dass man in diesem Moment nicht daran denkt, welchen Schmerz man in den Menschen hinterlässt, die man liebte. Der eigene Schmerz, die eigene Enttäuschung über das Leben und die tiefe Verzweiflung sind einfach zu groß, als dass man noch rational denken könnte. Es gibt für einen selbst einfach keinen anderen Ausweg mehr, als den Weg des Suizides zu gehen.
🫂
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